“Ich bin…” – Muss das wirklich sein?

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Du sagst “Ich bin Vegetarier” oder “Ich bin Fleischesser”. Vielleicht “Ich bin Backpacker”. “Ich mache jetzt Zero Waste.” “Ich bin Frugalist.” “Ich bin HSV Fan” ODER “Ich bin St. Pauli Fan”. Dazwischen gibt es nichts. Ganz oder gar nicht, man identifiziert sich halt mit einer Sache. Oft auch unbewusst, ohne es unbedingt laut auszusprechen.

Wir haben zum Beispiel immer gesagt, dass wir Backpacker sind und uns recht stark damit identifiziert. Dazu gehörte früher auch, Leute ein bisschen zu belächeln, die beispielsweise Pauschalreisen gebucht haben. Wir hätten das natürlich nie selbst getan (und die eigenen Pauschalreisen aus der Vergangenheit eher geheim gehalten bzw. schlecht gemacht).

Genau so beim “Veganer sein”: Hat man einmal in seinem Freundeskreis kundgetan, dass man sich pflanzlich ernährt, muss man das auch durchziehen. Sonst scheint die Verachtung des Umfelds vorprogrammiert. Auch, wenn die Freunde entspannt sind und das gar nicht machen würden (denen ist es vielleicht völlig schnuppe, wie Du Dich ernährst): Die Sorge ist da und man will es sich irgendwie auch selbst beweisen.

Anders herum konnten wir bei “Fleischessern” beobachten, die sich vorher negativ über veganes Essen äußerten, dass sie nicht zugeben wollten, wenn das vegane Mahl doch ganz gut schmeckte.

Was klar ist: Durch die Identifizierung mit einem Lebensstil legt man sich Ketten an. Das schlechte Gewissen ist vorprogrammiert, wenn man “sündigt” und etwas anders macht, als es zum eigen gewählten “Ich bin…” passt.

Ein Zwischenweg schien uns selbst (eher unbewusst) lange nicht möglich. Wenn man was macht, dann muss man es auch richtig machen! Wir wollten nicht als Hochstapler dastehen, die ihr Wort nicht halten oder – noch schlimmer – als Versager, weil man offensichtlich nicht die nötige Disziplin hat, die Sache durchzuziehen.

Etwas deutlich Strengeres als die Ernährungs- oder Reiseart ist gerade en vogue: Zero Waste. Wir sehen Menschen, die vor schlechtem Gewissen mit Blick auf ihre eigene Existenz versuchen, kein Fünkchen Müll mehr zu erzeugen.

Und dann sind da die Relikte aus der alten müllverursachenden Zeit, die verschwinden müssen: So werden die noch gut funktionierenden Tupperdosen aus Plastik durch nachhaltigere Materialien ersetzt, weil auf einmal alles aus Plastik böse ist.

Gebe ich mich komplett einer Sache hin, weil es mir Spaß macht, finden wir das mega gut. Dann ist ja alles prima. Problematisch wird es nur dann, wenn man sich gegeißelt fühlt und – getrieben von Scham und einem schlechten Gewissen – perfekt seine Mission erfüllen muss.

Wir fühlten uns auf jeden Fall regelmäßig schlecht, weil wir nicht immer konsequent handelten. Aber genau das muss nicht sein. Zum Glück wird man da mit dem Alter schlauer 😉

Es gibt sehr wohl eine Zwischenlösung und die ist unserer Meinung nach viel besser: Wir streben zum Beispiel lieber danach, uns in erster Linie pflanzlich zu ernähren und essen zu 70% vegan.

Damit haben wir einerseits den entscheidenden Teil unserer Ziele erreicht – weniger Tierquälerei, mehr Umweltschutz – und andererseits kein schlechtes Gewissen, wenn man ein Käsebrot oder Omelett isst. Sei es, weil es gerade nichts anderes gibt, was in das eigene Ernährungskonzept passt, oder weil wir richtig Lust darauf haben.

Wir haben für uns in den meisten Bereichen die Balance gefunden und gehen auch hier pareto-effizient vor. Das bedeutet weniger “Ich bin ….”, sondern mehr “Ich strebe nach …, ich versuche …”.

Das nimmt auf allen Seiten in der Regel die Spannung raus und man kommt gelassener durchs Leben. Genauso wäre auch ein Pauschalurlaub wieder eine Option für uns, wenn wir das wollen würden.

Naja, Du weißt worauf wir hinauswollen 🙂

So eine Änderung des Vokabulars und der eigenen Einstellung hat nicht nur uns geholfen, sondern insbesondere auch der Toleranz anderen Menschen und Lebensweisen gegenüber.

Wir sind überzeugt davon (und das haben wir uns nicht selbst ausgedacht, sondern von schlauen Leuten gerlernt :-): Du kannst nur einen sinnvollen und wirklich hilfreichen Beitrag für Deine Mitmenschen bzw. Deinen Planeten leisten, wenn Du Dich selbst gut fühlst und Du ein Leben lebst, was Du aus einem eigenen, positiven Antrieb heraus gewählt hast.

Getrieben von Angst, Scham und schlechtem Gewissen (oder noch schlimmer: Hass und Ablehnung), wirst Du auf Dauer niemandem helfen. Hingegen Dinge zu 80% durchzuziehen, wird viel hilfreicher sein, als wenn man etwas wieder komplett sein lässt, weil man es einfach nicht durchhält.

Verfasst von Martin Eckardt
Veröffentlichung: 07. Juli, 2020
LETZTE AKTUALISIERUNG: 11. Dezember, 2023
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